Annie Ernaux: Die leeren SchrÀnke
DIE LEEREN SCHRĂNKE von Annie Ernaux ist eine intelligent und wortgewaltig erzĂ€hlte Milieustudie ĂŒber Beharrung und Aufbruch.
Gelesen von Lisa Hrdina
WĂ€hrend die 20-jĂ€hrige Studentin Denise Lesur im Wartezimmer einer Engelmacherin sitzt und auf ihre Abtreibung wartet, raisonniert sie ĂŒber ihr bisheriges Leben. Geboren in einem Ort im Norden Frankreichs, wuchs sie zwischen der Kneipe ihres Vaters und dem KrĂ€merladen ihrer Mutter auf. Doch statt in die örtliche Volksschule schickten ihre Eltern sie auf die bessere, die katholische Schule, damit sie etwas lernen konnte. Dort bemerkt Denise schnell den krassen Unterschied zwischen dem Milieu und der Sprache ihrer Eltern und dem Habitus ihrer MitschĂŒler:innen, deren Eltern Optiker, Ărzte oder Manager sind. Ihr fĂ€llt es schwer, sich anzupassen, und so bekommt sie des Ăfteren Ărger, weil sie die geheimen Spielregeln des guten Benehmens nicht kennt. Trotzdem hat sie die besten Noten und schafft ihr Abitur mit Bravour, so dass sie ein Stipendium fĂŒr die UniversitĂ€t bekommt. Wie geht es also weiter?
Intelligent und wortgewaltig
âDie leeren SchrĂ€nkeâ ist der DebĂŒtroman von Annie Ernaux, der jetzt erstmals auf Deutsch erschienen ist. In einem inneren Monolog berichtet darin die junge Denise Lesur, die einige autobiografische ZĂŒge Ernauxs aufweist, von ihrer Kindheit und Jugend in einem kleinen nordfranzösischen Ărtchen am Ende der 1950er Jahre. Annie Ernaux setzt sich mit den verschiedenen Milieus ihrer Heimatstadt auseinander. Sie stellt immer wieder fest, dass Herkunft und Bildung einen Menschen auch jenseits der Schullaufbahn gravierend beeinflussen. Sie spricht von der geistigen Freiheit und Selbstsicherheit des BildungsbĂŒrgertums und vergleicht dies mit dem fragilen Selbstbild ihrer bildungsfernen Eltern. Und sucht dabei selbst einen gesellschaftlichen und intellektuellen Platz fĂŒr ihr heranwachsendes Ich in der engen Gesellschaft der spĂ€ten 1950er, frĂŒhen â60er Jahre.
Spannend erzĂ€hlt, zeigt Ernaux, wie Bildung damals fĂŒr immer mehr Menschen zum TĂŒröffner fĂŒr einen gesellschaftlichen Aufstieg wurde und dennoch die Herkunftsmilieus auf subtile Weise ihre Wirkung behielten. So ist âDie leeren SchrĂ€nkeâ eine intelligent und wortgewaltig erzĂ€hlte Milieustudie ĂŒber Beharrung und Aufbruch im provinziellen Frankreich der 1950er Jahre.
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaĂen gefeiert worden. Annie Ernaux hat fĂŒr ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis fĂŒr Literatur.
Sonja Finck ĂŒbersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter BĂŒcher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. FĂŒr ihre Ernaux-Ăbersetzungen wurde sie mit dem Eugen-HelmlĂ©-Ăbersetzerpreis ausgezeichnet.
© Der Audio Verlag
5 h
13. Oktober 2023
ISBN: 978-3742430243
Original:
Les armoires vides
Ăbersetzung:
Sonja Finck